Mit der rechten Hand ziehe ich meine Tochter wie einen kleinen, bockigen Esel hinter mir her, während ich mit meiner linken Körperhälfte versuche, mich gegen die brachiale Naturgewalt, die sich mir mit voller Wucht entgegenstemmt, zur Wehr zu setzen. Denn um uns herum tobt ein ohrenbetäubender Sturm, der mir mit einer Windstärke von gefühlten 200 Stundenkilometern ins Gesicht peitscht. Dabei ist mein linkes Ohr am Erfrieren und mein rechtes Ohr beinahe taub. Denn der kleine bockige Esel gibt alles, um im akustischen Wettstreit gegen den heulenden Wind zu gewinnen. Und sie hat tatsächlich die Nase ganz weit vorn. Ihr lauthalses Gebrüll wird lediglich von ihrem Jammer-Staccato unterbrochen: „Mama, ich fühle Kälte auf der Haut. Mamaaa, ich brauche Fell im Gesicht.“ Und sie hat Recht. Auch ich hätte gerade nichts gegen eine kleine Fellschicht an Stirn und Wangen einzuwenden. Auch Ohropax wären nicht schlecht. Denn nun setzt ihr markerschüttterndes Geschrei wieder ein. Das Herrchen, das mit seinem fidelen Dackel an mir vorbeiläuft, schaut mich mitleidig an.
Strategie 1: Spaziergänge – Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung!
Vielleicht ist das stoische Festhalten an meinem Plan, im Lockdown bei jedem Wetter vor die Tür zu gehen, doch etwas überambitioniert? Ehrlich gesagt, hielt ich die klugscheißerische Phrase „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung.“ seit jeher für bekloppt. Aber wir lassen uns doch von Corona und so einem kleinen Windchen nicht unterkriegen, oder vielleicht doch? Kurzzeitig bin ich geneigt, mein schreiendes Kind einfach stehen zu lassen und weiterzulaufen. „Gehört der bockige Esel mit dem fehlenden Fell im Gesicht etwa zu mir? Ich glaube nicht.“
Strategie 2: Märchen – Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute
Aber ich bin ja keine Rabenmutter. Und so drehe ich nach drei Schritten ohne meine Tochter wieder um und versuche den Heimweg mit Beschäftigungs-Strategie Nr. 2 zu verkürzen: „Komm mein Engel, ich erzähle dir ein schönes Märchen und dabei laufen wir ganz schnell nach Hause. Also, es war einmal eine Prinzessin. Sie lebte mit ihrem glitzernden Einhorn und ihrem Prinzen zusammen auf einem wunderschönen Schloss.“ „Nein!“ schreit mir meine Tochter, die ein großes Faible für Einhörner und Prinzessinnen pflegt, mit Furor entgegen. „Kein Prinz! Die Prinzessin lebt nur mit Einhorn auf Schloss!“ O.k., unsere Tochter scheint keine guten Erfahrungen mit Prinzen gemacht zu haben. Auf meine Frage, warum sich die Prinzessin denn in keuscher Einsamkeit in ihrem Prachtbau verlustieren solle, antwortet mir Lou kurz und präzise: „Prinzen sind blöd und hässlich.“ Das finde ich eine großartige Erklärung. Ich bin mir sicher, dass unser Mädchen mit einer solch realitätsnahen Attitude vor der ein oder anderen Enttäuschung im Leben bewahrt wird. Also setze ich meine Geschichte ohne Prinzen fort und ich muss in aller Bescheidenheit zugeben, sie nimmt ein ganz fabelhaftes Ende. Ja, das Märchen ohne Prinz verläuft sogar richtig charmant und so komplikationslos.
Strategie 3: Phantasie – Wer braucht schon Prinzen, wenn man Diener haben kann?
Am Abend erzähle ich dem Stenz von Lous Aversion gegen Prinzen. Dieser zeigt sich wenig erstaunt und gibt zu bedenken: „Ich finde, Lou ist zu verwöhnt.“ Daraufhin entfährt dem Mann und mir unisono ein neugieriges „Warum?“ Und der Stenz ist um eine Erkrlärung nicht verlegen. Im Gegenteil, er begründet sein Urteil damit, dass seine kleine Schwester allmorgendlich nicht nur ihr Geschmeide, sondern auch ihr wallendes, weißes Sommerkleid anzöge und sich mit stolz geschwellter Brust eine Krone auf ihr scheinbar royales Haupt setze, um ihm dann mit gebieterischer Miene zu erklären, er sei nun ihr Diener. Eine aus emanzipatorischer Sicht wiederum nicht ganz schlechte Einstellung. Was braucht Frau einen Prinzen, wenn sie doch eigentlich viel besser mit einem Diener auskommt? Eine Logik, die sich mir auf Anhieb voll und ganz erschließt. Bravo! Und auch die Freundinnen unserer Tochter scheinen sehr emanzipiert. Während eines Playdates, das noch vor der Pandemie stattfand, flüsterte mir ein Freund des Stenzes, der ebenfalls ein großer Bruder ist, unter vorgehaltener Hand entgegen: „Ich fürchte mich vor meiner Schwester“. Dann lief er tonlos weg und sperrte sich in unserer Gäste-Toilette ein, während ihm seine zwei Jahre jüngere Schwester, die zeitgleich bei uns weilte, dicht auf den Fersen war. Zwar fürchtet der Stenz seine kleine Schwester nicht, aber eine andere Angst nahm kürzlich abends von ihm Besitz. Diese artikulierte er wie folgt: „Mama, gehst Du heute Abend auch nicht weg?“ „Nein, mein Engel, in Bayern herrscht strikter Lockdown mit Ausgangssperre. Daher gehe ich nirgendwohin.“ entgegnete ich besänftigend. Woraufhin mir der Stenz seine tiefsten Befürchtungen darlegte: „Ach Mama, ich habe so Angst, dass Du vor uns fliehst.“ Was habe ich doch für einen empathischen Sohn!
Strategie 4: Farbe – Mach Dein Leben bunt!
Dabei kann das Leben sogar im Lockdown wirklich schön sein. Vor allem, wenn sich die Kinder, während man selbst noch schläft, so herrlich selbst beschäftigen. Kürzlich legte sich der Stenz morgens in aller Herrgottsfrühe eine wahrlich authentische Verkleidung zu. Seinen Aussagen zu Folge, wollte er sich einmal im Leben wie ein Hund fühlen. Was ihn dazu bewegte, sich aus der gesamten Karnevalsschminke eine orangene Brühe anzurühren (es ist an dieser Stelle überflüssig zu erwähnen, dass die Spuren dieser Brühe seitdem unser gesamtes Haus zieren) und sich das scheußliche Gemisch auf seinen kompletten Oberkörper zu schmieren. Circa eine Stunde mussten wir ihn anschließend schrubben mit dem Ergebnis, dass noch Wochen nach seiner Hunde-Aktion orange-braune Farbe hinter seinen Ohren und an seinem Nacken haftete. Da lobe ich mir unserer Tochter, die zurzeit nicht sich selbst, sondern viel lieber ihren besten Freund schminkt. Mit den verheißungsvollen Worten: „Du bekommst blaue Schminke, weil Du ein Junge bist“ klatschte Lou ihrem „Best Buddy“ unlängst aquamarin-blauen Lidschatten quer über Stirn, Kinn und Wangen und kürte das glorreiche Make-Up noch mit einem grün-glitzernden Lippenstift, der unterhalb seiner Lippen vielversprechend funkelte. Wirklich viril! Farbe braucht der Mann. Und wer weiß, vielleicht wird der blaugrüne Frosch ja schließlich doch noch zum Prinzen?
Super – habe mal seit langem wieder richtig gelacht. Kinder können wirklich ein Quell ständiger Freude sein.