Zum Spießer mutiert? Oder: Eine Hommage an WG-Zeiten

Was ist aus mir geworden? Vor zehn Jahren lebte ich in einer Neuner-WG und lernte schon in meinen eigenen vier Wänden jeden Tag neue Leute kennen. Mein unmittelbarer Nachbar war ein Franzose mit chinesischen Wurzeln. Links hinten am Ende des Flurs lebte ein Italiener, der jede Nacht eine andere Couch-Surferin aus exotischen Destinationen bei sich beherbergte. Bevorzugt mit fabelhaftem Aussehen. Dabei hauste der Italiener selbst in einem circa sechs Quadratmeter großen Unterschlupf, der ehemals als Küche diente. Weiße Fliesen zierten noch bei seinem Einzug die Wände, eine heimelige Reminiszenz an die frühere Koch-Ära. Den Couch- Surferinnen war das Kajütenartige dieses Verschlags wurscht und dem Gastgeber ebenfalls. Platz ist ja bekanntlich in der kleinsten Hütte. Da störte auch der leichte Gas-Geruch, der aus einer defekten Leitung austrat, kaum. Überhaupt war uns allen vieles Wurscht. Der Zustand der Küche zum Beispiel oder wann der Flur das letzte Mal geputzt wurde. 

Tür an Tür mit der griechischen Kreissäge

Doch der Reihe nach. Ich bin nicht sehenden Auges in diese Neuner-WG geraten. Eine sehr schöne Zeit in meinem Leben übrigens. Zum Zeitpunkt meines Einzugs beherbergte die Altbauwohnung im Herzen von Schwabing gerade einmal vier andere Mitbewohner. Drei davon kannte ich und einen bekam ich nie zu Gesicht. Bei ihm handelte es sich um den „schnarchenden Griechen“. Er war ein scheues Wesen höheren Alters, von dessen Existenz wir lediglich durch seine kreissägenartigen Geräusche wussten. Der Grieche schnarchte am Tag und in der Nacht. Er verschnarchte auch den Zeitpunkt als unsere Fünfer-WG ganz plötzlich zu einer Neuner-WG mutierte. Ich kam abends nach Hause und erblickte auf einmal im Flur eine durchbrochene Wand. Dabei muss man wissen, dass die Vermieterin meiner damaligen Bleibe recht gierig war. Sie verlangte für mein zehn Quadratmeter-Zimmer stolze 400 Euro, wobei die anderen Zimmer teilweise noch teurer waren. Und da ihr die zimmerweise Vermietung in bester Lage Münchens als sehr lukrativ erschien, ließ sie kurzerhand von ein paar  Schwarzarbeitern in einer Nacht- und Nebelaktion, die Wand zu einer anderen zimmerreichen Wohnung durchbrechen. Aus zwei mach eins sozusagen.

„Les escargots du Portugal“

Mit einem gewissen Phlegma nahmen wir die wohnlichen Änderungen hin und harrten der Dinge, die da kamen. Und sie kamen aus Frankreich, Schweden, Portugal, Australien, der Schweiz und vielen anderen Orten, die ich im Laufe der Jahre leider vergessen habe. Es war herrlich. Drei meiner besten Freunde hier in München stammen immer noch aus dieser WG-Zeit. Es wurde in verschneiten Schwabinger Nächten Feuerzangenbowle getrunken, auf langen Ganzkörperspiegeln Sushi zubereitet und die weltbeste Pizza gebacken. Frische Schnecken aus Portugal waren eigentlich immer Bestandteil unseres wüst durcheinanderfliegenden Kühlschranks. Ich nannte damals doch tatsächlich ein halbes Kühlschrank-Fach mein eigen. Ulkigerweise war das ausreichend. Wer mich beim Einzug noch nicht kannte wusste bald, dass ich die Haferflocken-Esserin oder die Tomaten-Sandwich-Vertilgerin war. Alles in allem also eine sehr Platz sparende Kühlschrank-Konsumentin.

Verteidigungs-Strategie: Bügelbrett

In unserer „Kaiser-WG“ lebten die verschiedensten Charaktere in munterer Co-Existenz auf relativ engem Raum. Dabei war dieses Zusammenleben hervorragend, um die eigene Toleranz zu schulen. Nachdem das blonde Mädchen, das immer Hotpants trug, relativ zügig ausgezogen war, zog mir gegenüber ein freundlicher Kiffer ein. Sein Reich bestand aus sage und schreibe sieben Quadratmetern, welches sich allerdings, meiner Vermutung nach, durch die zahlreichen halluzinogenen Stoffe, die er rauchte auf phantastische Weise auszubreiten schien. Dabei war er, gerade den Schnecken gegenüber, die immer quicklebendig und taufrisch per Postfracht von Portugal in unser trautes Heim eingeflogen wurden, nicht besonders tolerant. Toleranz musste man auch üben, wenn Wiesn-Zeit war und sich noch mehr Menschen in unserer WG versammelten. Dabei wurde mein Zuhause immer wieder zu einem Panoptikum. Es war eine Wunderkammer seltsamer Begebenheiten und Begegnungen. Eines nachts stand beispielsweise der Schweizer mit einem Bügelbrett bewaffnet in meiner Zimmertür. Er meinte, er wolle sich verteidigen. Vor wem genau blieb mir bis heute ein Rätsel.

Auberge Espagnole im Herzen von Schwabing

Das tolle an der WG-Zeit war das Unterschiedliche an uns. Heterogenität par excellence sozuagen. Nicht nur die Länder oder Städte aus denen wir kamen. Auch unsere Biographien und Ausbildungen hätten verschiedener nicht sein können. Ein bisschen wie eine bunt gemischte Haribo-Tüte. Ob Lehrer, Arzthelferinnen, Fotografen, Berater, Physiker, Ingenieure oder Studenten – wir alle lebten in einer fröhlichen „Auberge Espagnole“ mitten am Schwabinger Kaiserplatz. Dabei blieb es nicht unbedingt bei einer Neuner-WG. Denn wir hatten alle unsere kürzeren oder längeren Liaisons und Partner, die wir anschleppten. Daher war es keine Seltenheit, wenn sich bei uns im „Wohnzimmer“ mal mehr als zwanzig Leute tummelten. Wenn es mir zu viel wurde, ging ich zum Mann oder zog mich in mein kleines bescheidenes Reich am Ende des Flurs zurück und mampfte meine Haferflocken.

In der Bayerischen Vierer-WG ist Exotik Fehlanzeige

Und heute, zehn Jahre später? Da ertappe ich mich tatsächlich dabei, wie ich meiner Freundin einen total verspießten Link sende. Einen Link auf dem sie Tipps mit wöchentlichen Rezeptideen findet. Tatarata: sogar zum Download als PDF! Sensationell. Man muss ja irgendwas kochen für die Kinder! Und da Schnecken nicht unbedingt zu den Lieblingsspeisen Vierjähriger zählen, brauche ich und mein Umfeld dringend Inspiration. Unglaublich, wie sich das Leben verändert. Von Neuner- auf Vierer-WG in zehn Jahren. Dabei sind zwei meiner Mitbewohner noch minderjährig und manchmal genauso verrückt wie der Schweizer mit dem Bügelbrett! Nur nicht ganz so international sind wir. Denn auf die Frage an den Stenz, ob er denn Vegetarier sei, antwortete er unlängst mit stolz geschwellter Brust: „Nein, ich bin Bayer!“ Aber für die Exotik in unserem Leben reisen wir dann halt einfach ein bisschen mehr.

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