Ich sitze gerade hoch konzentriert im Gespräch mit einer sympathischen Hotelmanagerin und versuche, unsere einjährige Tochter davon abzuhalten, sich mit den Buntstiften ihres Bruders eine furchteinflößende Kriegsbemalung auf ihr Gesichtchen zu zaubern. Doch leider ist sie fest entschlossen, sich als Gemahlin von Old Shatterhand zu qualifizieren und ihren Zukünftigen mit einem farbenprächtigen Make-Up in satten Grün, Rot- und Gelb-Tönen zu imponieren. Meine kläglichen Versuche, ihr die Buntstifte mit sanftem Druck zu entziehen, quittiert sie mit einem ohrenbetäubenden Geschrei. Doch anstatt pikiert zu schauen, erfreuen sich mein Mann und die Hotelmanagerin unisono an dem markerschütternden Indianergeheul. Beide sind sich nämlich einig, dass es doch sehr schade sei, dass der Mensch mit zunehmendem Alter seinen angeborenen Nonkonformismus, seine Authentizität und auch seine Originalität verlöre.
Einjährige Squaw eröffnet das Feuer
Ich selbst habe mittlerweile einen so roten Kopf, dass mich Old Shatterhand mit Kusshand als schwiegermütterliche Squaw akzeptieren würde. Oder vielleicht könnte ich gar Winnetou von meinen Liebreizen überzeugen? Zu meinem Leidwesen entdeckt die kleine Indianerin plötzlich die Polizei-Pistole, die ich dezent auf dem Stuhl sitzend hinter meinem Rücken verschwinden ließ. Freudentaumelnd und mit verzücktem Quietschen zielt sie damit auch prompt auf die Hotelmanagerin. Das nenne ich einmal ein professionelles Meeting! Obwohl dem Stenz ausdrücklich verboten wurde, die Pistole mit ins Gepäck zu packen, hat er sich an dieses pazifistische Verbot nicht gehalten. Und als ich den Rucksack zum Spielen für meine Kinder während des Meetings öffne, fällt mein Augenmerk sogleich auf das verhasste Kriegsutensil. Um nicht als kompletter Erziehungsversager dazustehen, versuche ich die Pistole zu verstecken. Wie sich nun herausstellt mit mittelmäßigem Erfolg. Ich dachte immer Indianer schießen nur mit Pfeil und Bogen. Zum Glück hat mein Gegenüber Humor und bewundert nun das ungezähmte, nicht domestizierte Naturell unserer Zweitgeborenen, die weder den gelben Stift noch die Schusswaffe hergeben möchte. Ganz im Gegenteil, mit der ihr ganz eigenen Eleganz, nämlich einem pinguin-gleichen Watschelgang, versucht sie nun mit beiden Corpora Delicti im Schweinsgalopp Richtung Hotelausgang zu türmen.
Erholungsurlaub ade – Abenteuer-Auszeit hallo!
Hermann Hesse hat ein sehr schönes Buch geschrieben. Es heißt „Eigensinn macht Spaß“. Genau das könnte das Lebensmotto meiner Kinder sein. Mit ihnen zu reisen ist ein bisschen wie mit quicklebendigen Überraschungseiern durch die Welt zu tingeln. Man weiß nie, was einen im nächsten Augenblick erwartet. Im schlimmsten Fall bekommen sie im lang ersehnten Sommerurlaub Maul und Klauenseuche (Hand-, Fuß- Mundkrankheit) oder im Winterurlaub einen Hüftschnupfen. Im besten Fall aber, zielen sie während eines Hotelaufenthaltes als Indianer getarnt mit einer Schusswaffe auf die Direktorin. Daher lautet mein Rat an alle werdenden Eltern: Akzeptiert so früh wie möglich die Tatsache, dass ein Urlaub bis auf weiteres erst einmal keine Erholung mit sich bringt. Verabschiedet Euch von der lieb gewonnen Angewohnheit in den Ferien auf einer Liege mehr als fünf Minuten auszuruhen, ein kleines Nachmittags-Nickerchen am Pool zu genießen oder gar ein gutes Buch zu lesen! Langweilige, eintönige Entspannungsurlaube waren gestern. Mit Einzug der Windeln und Feuchttücher in Euren Haushalt werdet Ihr automatisch zu hyperaktiven Abenteuer-Urlaubern. Auch wenn Ihr Euch noch so sehr auf ein entspanntes Wellness-Wochenende vorbereitet. Es wird ein abwechslungsreiches und tosendes Vergnügen! Verließ ich vor meinem Mama-Dasein die heimischen Gefilde, um einem berechenbaren Erholungstrip mit süßem Nichtstun zu verbringen, wird nun jede Reise zu einem überraschenden Experiment, das Unvorhergesehenes, Erstaunliches und Seltsames zu Tage fördert.
Kollektiver Schaf-Kollaps
Daher, bewahrt Ruhe bei öffentlichen Tobsuchtsanfällen vor starrendem Publikum und erfreut Euch am quirlig-kreativen und vor allem immer lauten Spiel Eurer Sprösslinge. Denn spätestes in vierzig Jahren werden auch sie zu langweiligen, Ruhe suchenden und immer müden Eltern mutieren, die ihren bezaubernden Watschelgang verloren haben. Also genießt die Zeit bis dahin und nehmt jeden unvorhersehbaren Augenblick dankbar und demütig an. Seht es als Spaß! Ich weiß, es fällt nicht immer leicht. Das merke ich wieder einmal als Fräulein Lou mit Schmackes sämtliche Holz-Schafe, die in der Hotellobby zu Deko-Zwecken bereitstehen, umschmeißt. Damit hat auch der Rezeptionist, der mit offenem Mund dem tierischen Schaf-Kollaps beiwohnt, nicht gerechnet. Warum musste er auch meine Kinder dazu ermuntern, eine Runde lustiges Schafe reiten zu spielen? Fräulein Lou ist über den kollektiven Schaf-Zusammenbrauch ebenfalls erzürnt und brüllt.
Man(n) trägt Dusch-Haube
Zum Glück eilt ihr Bruder herbei und rettet sie. Und zwar mit einer avantgardistisch abstehenden Dusch-Haube als kleidsamen Heilsbringer-Beweis. Diese erquickliche Kopfbedeckung trägt der Stenz während unseres Hotelaufenthaltes immer mal wieder zwischendurch. So als modisches Accessoire für den trendigen Mann von morgen sozusagen. Er fand dieses schmucke Kleidungsstück bei den Beauty-Produkten in unserem Hotelbad. Die Duschhaube ist auch stiller Zeuge unseres Uno-Spiels, das ich mit dem Stenz nach dem Schaf-Massaker, in der stylischen Hotelbar zum Zeitvertreib beginne.
Von wegen harmloses Kartenspiel, Vorsicht Lynchgefahr!
Leider ist der Kartenspaß von kurzer Dauer. Daran ändert auch die fesche Optik meines Sohnes nichts. Denn Fräulein Lou hat es auf all unsere Spielkarten abgesehen und versucht ihnen mit Gewalt habhaft zu werden. Der schreienden Offensive von Fräulein Lou folgt eine brüllende Defensive des Stenzes und das alles vor den milde dreinblickenden Augen des Pianoplayers, der im heimeligen Licht des Kaminfeuers „Autumn Leaves“ zum Besten gibt. So eine Auszeit im Wellnesshotel könnte ja so entspannend sein. Allerdings nicht für mich. Ich klaube drei Millionen Unokarten aus den hintersten Ecken der Hotelbar und versuche währenddessen den Stenz davon abzuhalten, sämtliche Kerzen, die die Bar stimmungsvoll illuminieren, auszublasen und Fräulein Lou im Sekundentakt vor dem offenen Kaminfeuer zu bewahren. Während mir wieder einmal der Schweiß von der Stirn rinnt, entschließe ich eine Etage tiefer zu gehen. Allerdings erleidet meine Tochter hier im Wellnessbereich im Halbstundentakt einen mittelschweren bis schweren Nervenzusammenbruch, weil sie noch mehr Trockenobst verspeisen möchte. Auch erfreut sie sich bei ihren ersten ambitionierten Schwimmversuchen immer wieder an ihrem eigenen Echo, das mit akustischer Imposanz durch den Indoor-Pool hallt.
Let the show begin!
Damit ich diesen tosenden Nachmittag mental als Geschenk annehme, murmle ich, inspiriert vom Gedankengut der weisen Hotelmanagerin, folgendes Mantra vor mich hin: „Sei dankbar für ihre rebellische, authentische und originelle Art! Diese wunderbaren Eigenschaften währen nicht mehr lange. Schon bald werden sie sozialisiert, gezähmt und angepasst ihre Bahnen im Pool und im Leben schwimmen. Also genieß‘ das Echo im Hallenbad, stimm‘ lauthals mit ein und setz die Dusch-Haube auf!“