The only possibility to survive the darkness is glitzer!

Der Stenz lacht mich verschmitzt an und liest mir mit großem Vergnügen die beiden Silben „Luuuuu Saaaaa“ immer und immer wieder vor. Leider scheinen die anderen zu übenden Silben nicht die gleiche Faszination auf ihn auszuüben. Schleppend geht es voran: „mooooo, maaaaa, wiiiiiiii, laaaaaaa, leeeeee…. . Nur bei „Luuuu Saaaaa“ blitzen seine Augen kurz auf, während ich gegen den mich übermannenden Schlaf ankämpfe. “Mama, da steht Lusa”. Ja, stimmt, aber den loser den du meinst, schreibt man anders. Das scheint dem Stenz egal zu sein. Lusa ist Lusa! Irgendwie hatte ich mir das mit dem Lesen üben ganz anders vorgestellt, mehr rosarot und vielleicht auch ein bisschen hellblau. Leider ist lesen üben eher schwarz. Ein schwarzes Loch in das ich hineingezogen werde, das mich hypnotisiert, um mich anschließend ganz und gar zu verschlingen. Die monotonen Schwingungen der vorgelesenen Silben paralysieren mich.

Es lebe die Phantasie!

In meinem naiven Denken ging ich davon aus, dass mir der Stenz als Einsteiger-Lektüre nach acht Wochen Schulunterricht, vielleicht erst einmal etwas zögerlich, dann aber doch relativ hurtig, von Michels Abenteuern aus Lönneberga vorlesen würde. Aber nur, um mir wenig später mit viel Verve in der Stimme die gesammelten Werke meiner Lieblingslektüre aus Kindertagen, nämlich “Ich und meine Schwester Clara” zu rezitieren. In meiner Phantasie war er es, der der gesamten Familie ab Schulbeginn die Gutenacht-Geschichte vorliest. Die Realität gestaltet sich leider etwas anders und lullt mich mit stockend vorgebrachten Urtönen in einen tiefen Dämmerschlaf.

Eben noch im schwarzen Loch und plötzlich mittendrin im bunten Leben

Dieser wird allerdings von unserer Tochter jäh unterbrochen. Sie fordert nämlich lauthals meine Meinung in Stilfragen ein. So schrecke ich aus meiner tief versunkenen Lethargie auf, weil mich unsere Zweitgeborene mit einem halluzinogenen Farbrausch konfrontiert. Dabei fällt mir plötzlich das folgende Zitat ein: “The only possibility to survive the darkness is glitzer.” Wie wahr. Eben noch im schwarzen Loch und jetzt mittendrin im bunten Leben. Denn neben dem Schreibtisch des Stenzes steht ein laufender Meter, eingehüllt in Geschmeide, das die Kraft besäße, schwache Augen zu lähmen. Ich habe das Gefühl, es ist ein bisschen so, als blicke ich in einen gleißenden Feuerball. Meine Augen müssen sich nach dem Gewahrwerden des schillernden Antlitzes unserer Tochter erst wieder an das Grau dieses tristen Novembertages gewöhnen. Eine Art Schwindel überkommt mich, der sich auch nicht bessert, indem ich “Susi isst Salami” von weit weg vernehme.

Mehr ist mehr!

Und während mein Kopf noch Karussell fährt, ist unsere Tochter der Verzweiflung nahe. Denn bei dem Versuch, ihrem Aussehen noch mehr Glamour zu verleihen, ist sie kläglich gescheitert. Das pinke Glitzer-Shirt lässt sich nämlich nicht so ohne weiteres über das dicke rosa Hasenkleid, das sie gerade trägt, stülpen. Und ihr „Bau“ (Bauch) entbehrt nun des begehrten Glitters. Mit größtem Ingrimm tut sie ihre Verzweiflung kund. Und ihr Bruder stimmt in ihr lautes Wehklagen mit folgenden Worten ein: „SO KANN ICH MICH NICHT KONZENTRIEREN!“ Die Verve, die ich bei den Leseübungen bisher etwas vermisste, offenbart sich nun im Zorn-Gebrüll beider Kinder. „Aber Mama, suche Ring!“ jammert es mir außerdem von der etwas nachlässig gekleideten und nur halbherzig glitzernden Lou entgegen. Das kann ich mir kaum vorstellen, dass einer ihrer Ringe tatsächlich verloren ging. Denn acht von ihren zehn Fingerchen erstrahlen in animalischem Glanz. Während auf dem Daumen ein furchteinflößender Löwe seine Zähne fletscht, lacht mich von ihrem Zeigefinger ein Pinguin verstohlen an. Überhaupt wären ihre Hände momentan perfekt geeignet für einen zoologischen Anschauungsunterricht. Denn beinahe jeder ihrer Finger wird von einem Tier-Ring geziert. Ihre Arme hingegen wären zur ausschweifenden Farbenlehre prädestiniert. Denn ca. 20 bis 30 bunt schillernde Armbänder mäandern sich bis hoch hinauf zu ihren Schultern. Ganz nach dem bescheidenen Motto: „Mehr ist mehr.“ Und wenn ich sie so betrachte und dieses Bild in die Zukunft extrapoliere, bin ich mir fast sicher, dass es schmucktechnisch auch in 13 Jahren nicht schlimmer werden kann.

Ich, der „Stlye-Lusa“

So ist die erste Amtshandlung unserer Tochter am Morgen, ihr gesamtes Geschmeide anzulegen. Dafür marschiert sie nach dem ersten Augenaufschlag schnurstracks zu ihrer „Kacktruhe“ (Schatztruhe) und wühlt in deren Untiefen. Wird sie hier nicht fündig, frequentiert sie einen ihrer beiden Reiseköfferchen, die ebenfalls als Aufbewahrungsort für ihr funkelndes Habe dienen. Diverse Ringe, Haarspangen und etliche Armbänder dürfen zum gelungenen Auftakt in einen glanzvollen Tag nicht fehlen. So wundere ich mich fast täglich, dass sich unser Kind unter der Zentnerlast an Klunkern überhaupt noch aufrecht halten kann. Aber wer weiß, vielleicht bin ich auch einfach nur ein „Style-Lusa“, der keine Ahnung von Mode hat?

„Mama, was ist sexy?“

Mama, was ist sexy?“ Hoppla, was ist das denn? Welch eine Frage kurz bevor meine häuslichen Pflichten sich endlich dem lang herbeigesehnten Ende neigen. Ich bin quasi nur noch wenige Zentimeter von der Zielgeraden entfernt. Beide Kinder liegen schon im Bett. Ich erwarte nur noch zwei bis 15 überschaubare Toilettengänge der Zweitgeborenen und laut verkündete Hungerattacken des Erstgeborenen. Letztere stellen sich bei uns in letzter Zeit regelmäßig genau dann ein, wenn der letzte Krümel vom Tisch gefegt und alle Kinder-Zähne ordnungsgemäß geputzt wurden. Unzählige Küss-Orgien liegen bereits hinter mir. „Mama, noch ein Bussi deben (geben) und auch die heikle Frage der Kleider-Selektion für den nächsten Tag wurde bereits ausführlichst und abschließend geklärt. Ich bin also wirklich schon fast durch für den Tag. Die nächtliche Freiheit winkt mir lächelnd entgegen, Fanfarenklänge huldigen in meiner Phantasie schon der kurzen Zeitspanne, die nur für mich reserviert ist.

Sexy darf keinesfalls hübsch sein!

Und dann so eine Frage. „Papa meint, sexy ist hübsch.“ Ja, um Gottes Willen, sexy ist auf keinen Fall hübsch. Wie kommt der Mann auf so eine blöde Antwort? Er will es schnell hinter sich bringen, er ist schon in den abendlichen Freiheits-Modus eingetaucht. Er schwimmt quasi schon in Ruhe und Frieden. Da wird er sich auch von einer solch anspruchsvollen Frage nicht mehr herausziehen lassen. Das wäre zu unbequem. Ich überlege, gehe in mich. Hübsch darf keinesfalls sexy sein. Ich sehe den Stenz schon einer seiner Lehrerinnen leise zuraunen: „Sie sind aber sexy.“ Wundervoll. Und das nur, weil der Mann aus Bequemlichkeit nicht auf feine semantische Sprachnuancen eingegangen ist. Ich will doch nicht, dass es meinem Sohn aufgrund der Lethargie seiner Eltern einmal so ergeht wie einem meiner französischen Ex-Freunde während einer Arzt-Konsultation. So erwiderte der Franzose würgend auf den ärztlichen Befehl, die Zunge herauszustrecken, damit man seine Mandeln besser sähe: „Bloß nischt, Dr. Jäger, da muss isch kotzen.“ Warum hat sich dem armen Franzosen vor mir keiner angenommen und ihm erklärt, dass „kotzen“ zwar im Zusammenhang leidiger Magisterarbeiten unter seinesgleichen als Wortwahl passend erscheinen mag,  aber nicht unbedingt bei ärztlichen Untersuchungen? Nein, so soll es dem Stenz, wenn er im zarten Alter von sechs Jahren einmal der Schönheit seiner Lehrerin huldigt nicht ergehen. Also entgegne ich auf die bedeutungsschwangere Frage meines Kindes: „Sexy ist ein großer Busen.“ Bäm. Und ich bin mir sicher, er wird sexy in absehbarer Zeit zu niemandem sagen. Ja, ich gehe sogar so weit und meine, dass er den Begriff überhaupt nie wieder in den Mund nehmen wird. Denn große Busen sind für einen Sechsjährigen alles außer hübsch und das ist auch gut so. „Iiiii und achso“ entgegnet mir der Stenz müde gähnend. Und ich jubiliere innerlich. Ich habe es geschafft. Ich bin am Ziel, gleich wird geschlafen.

Boffeln lieb ich nicht!

Aber da habe ich mich zu früh gefreut. Denn auf das Stichwort „iii“ scheint Louloubelle nur gewartet zu haben, denn plötzlich sprudelt es aus ihr heraus. Rotten (Karotten) ihhh und Boffeln (Kartoffeln) lieb ich nicht. Reis lieb ich. „Oh, Mama, ich habe Hunger“ verkündet der Stenz, der plötzlich wieder von umtriebigen Lebensgeistern zu neuer Energie geweckt wurde. Und das obwohl ich in der hitzigen sexy-Debatte doch hoffnungsfroh schon ein Gähnen erspähte. Nun gibt es wichtigeres als in die Untiefen der deutschen Sprache einzutauchen oder gar zu schlafen. Nun gilt es kurz vor 21 Uhr existenzielleren Bedürfnissen nachzukommen. „Auch Hungaaaa“ brüllt die Tochter. „Ich habe heute Mittag fast nix gegessen, denn im Hort gab es eklige Puffnudeln“ Mit diesen Worten versucht der Stenz sein Verlangen nach einer kleinen abendlichen Delikatesse zu legitimieren. „Es gab was? Puffnudeln?“ „Ja, eklige Puffnudeln mit lila Sauerkraut.“ Es hilft ja nix, müde erhebe ich mich und wanke mit beiden Kindern nach unten in die Küche, um das mittlerweile laut schreiende Hungaaaaa-Bedürfnis zu stillen und um das kulinarische Geheimnis zu lüften, das die im Hort kredenzten Puffnudeln mit lila Sauerkraut umwehen. Drei bis sieben Fruchtzwerge später weiß ich es: Es sind Schlutzkrapfen mit Rotkohl. Eigenartige Kombi, aber vielleicht ganz sexy?