Ich verbringe meine Tage gerade in einem Wellness-Hotel, in dem es sehr ruhig zugeht. Geradezu beängstigend ruhig. Ein bisschen wie in einem Schweige-Kloster. Ich höre hier sogar die Uhren unerträglich laut ticken. Eigentlich perfekt. Sehne ich mich doch so nach Ruhe und Entschleunigung. Das Hotel ist also wie für mich geschaffen. Für mich alleine wohlgemerkt. Nicht aber für meine beiden kleinen Reisegefährten. Denn akustische Askese ist so gar nicht ihr Ding. Da sind sich beide einig.
Vorsicht Lebensgefahr: Meuchelmord im Hotel-Restaurant
Wohingegen die anderen Gäste des Hotels allesamt wahre Meister des Schweigens und des amourösen Wisperns zu sein scheinen. Im Restaurant haben wir das Glück im „Romantik Bereich“ zu dinieren. Unsere Mitreisenden blicken sich nämlich nur tief in die Augen und versinken dann wieder in verliebtes Schweigen. Sie verstehen sich wortlos. Und diejenigen, die nicht mehr verliebt sind, versinken nur in stiller Andacht und nuscheln sich hin und wieder ein nüchternes „Reichst du mir mal das Wasser“ zu. Doch diese Ruhe wird durch uns, die scheinbar einzige Familie weit und breit jäh unterbrochen. Wie ein verbaler Tsunami überschwemmen meine lediglich im Schlaf stillen Abkömmlinge die sakrale Ruhe des Speisetempels. Auch meine hundertmalige Aufforderung an den Stenz, doch bitte seinen Gedankenschwall flüsternder Weise kundzutun, verpufft bedeutungslos im Nirvana. Flüstern kann der Stenz nicht. Oder höchstens für eine dreiviertel Sekunde, dann wird wieder erbarmungslos normal gesprochen, was durch die feierliche Atmosphäre hier leider wie aufmüpfiges Gebrüll erscheint. Und so lächeln uns lediglich die Ober freundlich zur Begrüßung an. Die Blicke der anderen Gäste wirken vernichtend. Im Verlauf des Abends meine ich sogar bei einigen Besuchern ein mordlustiges Flackern in den Augen gesehen zu haben. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
Pepper Pig gegen Tinnitus
„Nein, diese Tomate schmeckt eklig!“ gibt der Stenz schon zum Salat-Auftakt in die Stille hinein, für alle um uns herum deutlich vernehmbar, zu bedenken. „Ts, ts, ts“ kommentiert die streng dreinblickende Studienrätin am Nebentisch die Ekelbekundung unseres Sohnes. Auch das Baby kommt nun langsam, quasi simultan mit seinem großen Bruder, in Fahrt und stößt mehrmals hintereinander intervallartig spitze, voluminöse Schreie aus. Mir stellen sich spontan alle Nackenhaare auf und ich frage mich, wie ich dieses Fünf-Gang-Menü unbeschadet überstehen soll. „Schau mal Mami, ich habe den Traktor rot ausgemalt und nicht grün“ gibt der Stenz vollkommen entzückt von seiner eigenen artistisch-kreativen Ausmal-Performance zum Besten. Erneutes kritisches Hüsteln, diesmal aus einer anderen Ecke. Die Dame am Gang möchte sich bitte umsetzten, sie und ihr Herr Gemahl fühlen sich von den vorbeilaufenden Gästen in die Enge gedrängt. Das vernehme ich gerade als ich en passant mit dem Baby auf dem Arm in Richtung Eis-Station laufe, um dem Baby eine Eis-Waffel als strategischen „Tranquilizer“ und kleinen zwischendurch Appetizer darzubieten. Denn mit vollem Mund lässt sich ja bekanntlich weniger gut brüllen. Und keiner in diesem Restaurant wirft dem Baby oder mir auch nur ein einziges sympathisierendes Eltern-Lachen entgegen. Ich scheine umgeben von einer hyper-sensitiven Spezies an kinderphoben Gästen zu sein. Nachdem jeder bunte Farbenstrich als ich zurück an unseren Tisch komme, ekstatisch vom Stenz kommentiert wird und ich meine ganze Konzentration in das Ruhigstellen unseres zehn Monate alten Kindes stecken muss, einigen sich mein Mann und ich spontan darauf, den Stenz ausnahmsweise durch das Anschauen von Pepper Pig temporär zu sedieren. Ich weiß, pädagogisch in höchstem Maße verwerflich! Aber dieser erzieherisch fragwürdige Schachzug ist aus der Not heraus geboren und soll verhindern, dass die Gang-Umsetzerin und die grauhaarige Studienrätin beim nächsten euphorischen Ausruf unseres Mini-Künstlers einen Tinnitus oder folgenschweren Hörsturz erleidet. Mein Motiv ist also edel und aus Rücksicht geboren. Außerdem merke ich, dass mein Mann und ich uns schwertun, gleich zwei lärm-indifferente Kinder in Schach zu halten. Das Baby ist heute nämlich missmutig. Und ich stecke mitten im akustischen Epizentrum ihrer rhythmisch auftretenden Schreie, die bugwellenartig auch den letzten tauben Pensionär im hintersten Eck zu erschüttern drohen.
Zuckendes Auge im Gemüsebrei: Begleiterscheinungen eines entspannten Dinners
Dabei greift das Baby heute wirklich zu allen Mitteln – ganz nach Machiavelli. Denn bei den verschiedenen Versuchen, es mit leckerem Gemüse-Breichen zu füttern, wedelt es so vehement mit den Ärmchen, dass mich eine Ladung der vitaminreichen Kost frontal am oberen rechten Auge trifft. Das linke Auge beginnt unwillkürlich zu zucken und ich merke, wie sich außerdem rote Stress-Pusteln auf meiner Stirn formieren. Demütig senke ich den Kopf. Ich bin erschöpft und kapituliere. Langsam lasse ich das Baby unter den Tisch sinken und reiche ihm ein Spielzeug, damit es sich unter der Tischdecke verlustieren kann. Hunger scheint es offensichtlich keinen zu haben. Doch unter der Tischdecke verstecken zu spielen ist langweilig. Während ich gerade noch den Kartoffelmatsch von meinem Auge reibe, steuert es schnurstracks die spaßbefreite Studienrätin an. Ihrer ganzen Attitüde nach zu urteilen, hat sie als Lehrerin ein Leben lang daran gearbeitet, einen veritablen Kinderhass zu kultivieren, der auch vor einem krabbelnden Baby keinen Halt macht. Ein erneutes „ts, ts, ts“ und ich überlege spontan, den Rest des Dinners auf dem Zimmer einzunehmen.
Grunz, grunz! Die Rache pädagogischer Inkonsequenz
Doch das Highlight dieses stressig-stillen Abends ist sicherlich das Gespräch mit dem Sommelier. Denn nachdem der Stenz während des halben Essens in der Welt Pepper Pigs versank, möchte er uns nun ebenfalls in den Kosmos seines kleinen Schweine-Idols einführen. Zu diesem Zweck und um uns auch ein wahrlich authentisches Gefühl zu vermitteln, wie es sich als Rüsseltier so lebt, beginnt er plötzlich ohne Unterlass zu grunzen. Und je mehr ich zische „Bitte hör‘ sofort auf damit!“ desto lauter wird sein animalisches Schnauben. Das ist wohl die Rache pädagogischer Inkonsequenz! Ach was sehne ich mich nach unserem letzten Hotelaufenthalt. Hier fristeten wir im Restaurant in die Kinderecke verbannt unser Dasein glücklich und unbemerkt zwischen runter gefallenen Schnullern, zwei dutzend Feuchttüchern und angeknabbertem Baguette. Dabei rangen gleich drei verschiedene Babys gleichzeitig um den Sieg beim inoffiziellen Wettbewerb „Ich schreie am lautesten!“ Hier herrschte das Gegenteil von stressiger Stille, am ehesten könnte man das chaotische Treiben als entspanntes Tohuwabohu beschreiben. Herrlich!