Ich habe ein Déjà-vu: Ich fühle mich plötzlich wieder wie eine Zwölfjährige. Ich knie auf dem Boden und gebe mein Bestes, den störrischen Hamster meines Bruders aus seinem Versteck hinter dem Schrank hervorzulocken. Dabei geben wir Vollgas und wedeln mit Apfelstückchen und Bananenhäppchen, versuchen es mit Käse und Schinken, Lockrufen und Gesängen. Das quirlige Nagetier bleibt stur und bis auf weiteres verschollen. Wir befürchten schon das Schlimmste, als der flauschige Hamster nach einer gefühlten Ewigkeit, einem Tag und einer Nacht nämlich, pausbackig kauend und fidel dreinschauend, plötzlich wieder auftaucht. Was eine Erleichterung. Dreißig Jahre später ist es kein kleines Zottel-Vieh, das mir die Schweißperlen auf die Stirn treibt, sondern eines meiner Kinder.
Deckenleuchter aufgepasst, Jane und Tarzan kommen
Doch der Reihe nach: Einen Tag nach unserer gewagten Bergtour, bei der das Baby, wider meine ernsten Befürchtungen beim Abstieg nicht aus seinem Kinderwagen kullerte, müssen wir dringend arbeiten. Während sich der Stenz gerade im Landeanflug auf die Zugspitze befindet und das Hotel-Wohnzimmer in ein Cockpit umfunktioniert, kriecht das Baby in unserem Schlafzimmer umher. Wie ein irrer Wackeldackel auf Entzug schaue ich alle dreißig Sekunden von meinem Laptop auf und überprüfe, dass keines meiner beiden Kinder die Ziersteine vor dem Kamin verspeist, seine Feinmotorik an den von mir installierten Steckdosensicherungen trainiert oder am funkelnden Deckenleuchter des Hotelzimmers Tarzan spielt. Keines dieser Horror-Szenarien tritt momentan ein. Ich atme tief durch und wähne mich in Sicherheit. Bis ich irgendwann ein entferntes Brummen vernehme, das ich eindeutig meinem Zweitgeborenen zuordne. Mist, meine Helikopter-Observierung im Stakkato-Takt ist fehlgeschlagen. Ich schrecke schlagartig vom Schreibtisch auf und sprinte zu meinem Baby. Doch ich finde es nicht. Ich weiß, dieser Satz mutet merkwürdig an. Aber es ist so. Unser Baby ist plötzlich in den Weiten unserer Familien-Suite verschwunden. Wie furchtbar!
Nicht Diogenes in der Tonne, sondern der Stenz unter’m Bett
Ähnlich wie Sherlock Holmes nehme ich meine Fährte auf und folge dem fidelen, aber irgendwie entfernten Jauchzen und entdecke das Baby nach einem munteren Versteck-Spiel unter dem Hotelbett. Und so sehr ich mich bemühe, es mit meinen ausgestreckten Armen zu erreichen – es scheint Lichtjahre von mir entfernt. Ich gebe es ungern zu, aber unser Baby hat es sich unter unserem Hotelbett gemütlich gemacht und ist gerade dabei, sich hier häuslich einzurichten. Seine Kette aus Laugenbrezeln, die es stets in seinen Halsfalten trägt, dient ihm als leckere Vesper. So verspürt es augenscheinlich kein Verlangen, aus seinem Schlupfloch hervorzukriechen. Ich habe sogar den Eindruck, es freut sich über die kleine Verschnaufpause von seiner verrückten Familie. Als Wellnesshotel-Testerin fürchte ich auf unbekanntem Hotel-Terrain spitze Kanten, unnütz umherstehende Lampen oder bodentiefe Fenster, aber doch nicht harmlos aussehende Bett-Schlitze! Ich spüre eine Welle der Panik in mir aufsteigen als ich nach des Babys Beinchen grapsche, aber nichts als luftleeren Raum erwische. Das Baby lacht mich mit seinen sechs Zähnen schelmisch an. Oder lacht es mich aus? Bei jedem erneuten Grapscher schüttelt sich der kleine Körper vor Vergnügen. Wenigstens erkennt es nicht den Ernst der Lage. Denn mir schwant Böses. Was, wenn das Baby sich dazu entschlösse, es dem Hamster seines Onkels gleich zu tun und bis auf unbestimmte Zeit in den Untiefen unseres Hotelbettes zu verweilen. Ich rufe hysterisch nach meinem Mann und dem Stenz. Letzterer erklärt sich sofort bereit, heldenhaft seine Schwester zu retten. Doch ich brülle entsetzt, er solle bei uns bleiben, denn ich befürchte, auch mein zweites Kind an dieses unheimliche dunkle Monster zu verlieren. Schlimmer noch, der Stenz könnte einfach stecken bleiben. Wie schrecklich wäre es, verbrächte er seine Kindheit und Adoleszenz unter einem Hotelbett. Nicht der Mann in der Tonne, sondern der Jüngling unter dem Bett. Nicht auszudenken!
Mit Speck fängt man Mäuse und mit Giraffen Babys
Ich sehe meinen Mann und mich schon alleine nach Hause zurückkehren und in peinlicher Erklärungsnot leise vor uns hinstotternd: „Der Stenz steckt leider unter einem Hotelbett in Österreich fest und das Baby leistet ihm Gesellschaft. Ja, es ist so schade.“ Doch der Stenz, der seine Schwester wie keine andere kennt, hat die rettende Idee. „Sie liebt doch ihre Giraffe.“ „Ja“, stimmt der Mann spitzbübisch lachend ein und denkt den Stenzschen Gedanken wie folgt zu Ende: „Geben wir ihr die doch als Köder.“ Gesagt, getan: Jubilierend und frohlockend robbt das Baby in Windeseile seiner geliebten Giraffe Sophie entgegen und beißt beherzt in den Naturkautschuk. Und die Lehre der Geschicht‘: Vergiss’ die Steckdosensicherung, hütet euch vor dem Hotelbett!