Das Leben ist ein Wunschkonzert

Heute morgen um 6:30 h weckte uns unsere Tochter mit den Worten, dass sie eine Putzfrau sei und nun gedenke, unser Schlafzimmer zu reinigen. Zur Demonstration schleppte sie unendlich viele Feuchttücher an, die sie dann sorgsam auf dem Schlafzimmerparkett verteilte. Wahrscheinlich in der hoffnungsfrohen Annahme, dass die Feuchttücher den Rest der Bodensäuberung dann schon alleine übernähmen. Leider war dem nicht so. Und dass obwohl eine eingehende Bodenwischung in der Tat von Nöten gewesen wäre. Sehr sensibel unser Kind. Anschließend versuchte Sie alle Vorhänge und Jalousien selbständig zurückzuziehen, um uns das schöne Wetter, das draußen um 6:30 Uhr bereits herrschte, zu zeigen. Was absolut eigenartig ist, denn unser Nachwuchs erfreut sich, gerade morgens zu Schulzeiten, an einem beinahe komatösen Schlaf, der selbst gegen die lautesten Weckrufe immun ist. Erst seit der schulfreien Zeit singen unsere Kinder im Morgengrauen mit den Amseln um die Wette. Wunderbar!

Feder-Krönchen und Feen-Zauberstab – Die Zukunfts-Requisiten

Egal, ich habe ja einiges zu tun. Zum Beispiel rosa Federn an das Krönchen kleben oder Sterne an den Feen-Zauberstab nähen. Das ist wichtig in dieser Zeit. Denn nach Corona werden wir das Krönchen wieder ausführen und den Zauberstab zur Erfüllung unserer Wünsche wieder in der Luft hin und herschwingen. Ich bin mir sicher, die Zeit danach wird genauso wundervoll wie zuvor. Und bis dahin backen wir Hefezopfhasen, bemalen Eier, dichten oder verteilen Millionen Schnipsel in unserem Haus. Denn die Lieblingsbeschäftigung unserer Zweitgeborenen ist neben den morgendlichen Weckrufen momentan Papier zu zerreißen. Sie zerreißt, zerreißt und zerreißt. Den lieben langen Tag. Und ich sammle auf, sammle auf und sammle auf. Ebenfalls den lieben langen Tag. Fitness-Studio brauch‘ ich nicht. Das Aufsammeln von Millionen Papierschnipseln ist mein tägliches Workout. Ich habe ein Kind geboren, dass es Hänsel und Gretel mit ihrer Brotkrumen-Streuung nachmachen möchte. Wie einzigartig sie doch ist. Auch haben es ihr Aufkleber aller Art angetan. Unzählige Aufkleber zieren mittlerweile Schränke, Wände, Waschbecken und sogar ihre Stirn und Nase. Sie ist ein wandelnder Performance-Artist, der an sich selbst das beste Exempel statuiert.

Unser Briefträger: der personalisierte Bote des Glücks

Und sollte sich der Vorrat an bunten Osterhasen-Aufklebern allmählich dem Ende neigen, wird der Mann bekniet, Nachschub zu besorgen. Denn eines hat unsere Tochter sehr schnell begriffen. Der „Puter“ (Computer) eröffnet neue materielle Welten und der Briefträger ist der Heilsbringer in dieser Zeit. „Ich liebe Briefträger!“ Für sie scheint er der personalisierte Bote des Glücks zu sein. „Liebe Briefträger so sehr!“ und „Du bestellen, Puter!“ sind ihre favorisierten Phrasen. Denn neben dem Zerreißen von Papier besteht ein weiterer Zeitvertreib unseres Kindes dieser Tage darin, sich etwas zu wünschen. Für sie scheint das Leben ein nicht enden wollendes Wunschkonzert zu sein. „Mama, weißt Du, was ich mir vom Zahnarzt wünsche?“ nuschelt sie mir mit einem, mit Zahnpasta gefüllten Mund entgegen. „Nein“, entgegne ich. „Aber wer so schön die Zähne putzt, bekommt vielleicht wirklich vom Zahnarzt eine Kleinigkeit.“ ermuntere ich sie, mir weiterhin schön den geöffneten Mund entgegenzustrecken. Ein paar motivierende Worte sind bei unserer Tochter im Zusammenhang mit bevorstehenden Zahnarztbesuchen auf jeden Fall angebracht. Denn die letzten beiden Visiten zur Mundhygiene verliefen eher suboptimal. So verließ unser guter Zahnarzt-Freund, der für mich die Inkarnation an Gelassenheit verkörpert, fluchtartig den Untersuchungsraum, nachdem Lou in ein solch markerschütterndes Geschrei ausbrach, dass selbst die Praxis-Fenster zu klirren begannen. Sogar die engagierte Zahnarzthelferin Frau Schmidt, schmiss völlig aufgelöst den Hahn, den sie origamigleich aus den Einweghandschuhen zur Ablenkung unseres Kindes herstellte, in die Ecke und kapitulierte mit den Worten: „Au weh, ihr Kind kann aber laut schreien.“ Meine Rede!

Vom Frosch geküsst, vom Einhorn gesegnet

Allerdings habe ich das Gefühl, dass unsere Tochter für den nächsten Zahnarztbesuch insgeheim Besserung gelobt. Denn sie will unbedingt nach der Zahnbegutachtung beschenkt werden. „Wünsche mir Schlade!“ äußert sie ihre geheimen Sehnsüchte, die ihr diesmal nicht der Briefträger, sondern der Zahnarzt erfüllen soll. „Oh ich glaube, der Zahnarzt ist der falsche Ansprechpartner, um dir Schokolade als Belohnung zu schenken“, entgegne ich. „Dann wünsche mir Bummibärchen.“ „Aber Lou, Gummibärchen sind genauso ungesund und machen die Zähne kaputt. Vielleicht bekommst Du eine Zahnbürste.“ „NEIN! NEIN! NEIN! Zahnbürste will ich nicht, Schlade oder Handy, richtiges Handy!“ Erwähnte ich bereits, dass meine Tochter wahrlich eine Meisterin im Wünschen ist. Dabei äußert sie ihre Sehnsüchte mit einer solchen Vehemenz, dass ich das Gefühl habe, ein riesiger Wunsch-Steinbrocken fällt mir auf den Kopf und hypnotisiert mich. Dem Mann muss es ähnlich ergehen. Denn nach meiner letzten Dienstreise kam ich nach Hause und unsere Tochter verfügte plötzlich über ein sehr fragwürdiges Schmink- und Schmuck-Sortiment. Mein Mann muss wohl vom Wunsch-Steinbrocken unseres Kindes getroffen worden sein und in geistiger Umnachtung Online-Bestellungen recht zweifelhafter Natur aufgegeben haben. Ich traute meinen Augen kaum, als ich ihre glitzernd-grünen Lippen erspähte, ganz so als hätte sie gerade einen Frosch zu Tode geküsst. Und um dieses Bild noch zu krönen, lachten mich von ihren beiden Ohren zwei kleine Einhörner verschmitzt an. So ist es also, wenn man sich mit Inbrunst etwas wünscht. Dann geht es in Erfüllung. Das werde ich jetzt auch probieren, nachdem ich mir das rosa Krönchen aufgesetzt und den Feen-Zauberstab ganz sachte mit geschlossenen Augen gen Himmel geschwenkt habe.  Was ich mir wünsche? Das bleibt mein Geheimnis. Nur so viel: es hat mit einem papierschnipselfreien Leben vor Corona zu tun.