In unserem Ferienhaus am Meer lebt ein Spatzenpaar. Es hat ein Nest mit vielen kleinen Spatzen über unserem Esstisch auf der Terrasse. Die Spatzenbabys schreien von fünf Uhr morgens bis 23 Uhr am Abend. Manchmal ertappe ich die Spatzenmama dabei, wie sie nur eine Handbreit von meinem Teller entfernt, einnickt. Sie scheint so unendlich erschöpft. Ich fühle eine Woge der mütterlichen Solidarität mit diesem Spatz als ich heute Nacht bei gefühlten 40 Grad mit meiner Familie das lustige Spielchen „die Reise nach Jerusalem“ vollführe. Nur dass wir, anstatt Stühle wechseln, in unserem Ferienhaus wie eine Horde Wahnsinniger von einem Zimmer ins nächste ziehen. Und zwar nicht einfach nur so, sondern mit zwei Kinderbetten, Wasserfläschchen, Spucktüchern und drei gigantischen Mückennetzen bewaffnet. Denn so macht das Ganze noch mehr Spaß! Dabei wird dieses groteske Spektakel akustisch von lautstarkem Schreien des Babys und mürrischer Schlaftrunkenheit des Stenzes begleitet.
Ich, der Milch gebende Gecko unter dem Ventilator
Nach zwölf Tagen herrlichstem Wetter und süßem Nichtstun hat sich der Wettergott in dieser Nacht dazu entschlossen, uns mit maximaler Hitze und einem ohrenbetäubenden Sturm zu erfreuen. Dabei wird unser sonst so wunderbar durchwehtes Schlafzimmer oberhalb des Meeres zu einem kochenden Hexenkessel. Während vor unseren Fenstern der Sturm lauthals über das Meer peitscht, brodelt und wabert in unserem mediterranen Schlafgemach eine drückende Hitze, die sämtliche Moskitos der Insel anzieht. Aber nur die Moskitos mit einem hohen IQ. Denn sie haben es allesamt geschafft, sich unter unsere Mückennetze zu schleichen, um uns mit lautem Gesurre um die Ohren zu fliegen. Dabei wacht das Baby im Halbstundentakt auf und möchte gestillt werden. So liege ich die erste Hälfte der Nacht in Schockstarre wie ein Milch gebender Gecko unter dem Ventilator.
Auf der Flucht vor sengender Hitze, Meerestosen und schlauen Moskitos
Doch nun wird es mir zu blöd und ich fordere meinen Mann dazu auf, umgehend den Hexenkessel mit seinen hinterlistigen Moskitos zu verlassen. Der Mann brummt mit den Schnaken im Duett, stimmt mir allerdings zu und wir beginnen mit eingangs erwähntem Spiel, der Reise nach Jerusalem. Dabei erweist sich der Aufbau von zwei wackeligen Kinderbetten, die die 10. Generation von italienischen Kleinkindern bereits im Schlaf aufwachsen sah, als echte Herausforderung. Denn die Kinderbetten passen selbstverständlich durch keine Türe ohne zuvor fachmännisch eingeklappt und dann in einem der vielen anderen Schlafgemächer des Hauses ebenso fachmännisch wieder aufgeklappt zu werden. Leider fehlt für dieses Unterfangen in unserer Familie das Fachmännische. Und so befinden sich mein Mann und ich gegen 4:30 Uhr immer noch schweißgebadet im Nahkampf mit den Kinderbetten. Gegen sechs Uhr kapitulieren wir offiziell und gestehen uns unsere Niederlage ein. Das Ergebnis: gegen 6:30 Uhr schlafen wir endlich alle vier in einem sehr übersichtlichen italienischen Doppelbett ein. Die schlauen Moskitos sind auch in diesem Zimmer wieder mit von der Partie. Genau wie die sengende Hitze. Lediglich der Wind, der über das Meer tost ist noch als leises Säuseln zu hören. Aber dafür vernehmen wir aus diesem Schlafzimmer den grandiosen Morgengesang unseres italienischen Nachbarn umso intensiver. Punkt 7:30 Uhr dröhnt uns sein vollmundiges „O sole mio“ aus seiner Dusche entgegen.
Mülltrennungs-Fanatismus in seiner Reinform
Dabei wurde diese glorreiche Mittelmeer-Nacht bereits von einem fulminanten Abend eingeläutet. So muss man wissen, dass sich mein patenter Mann bereits Tage vor unserer Abreise zu einem veritablen Müllexperten mausert. Denn die letzten Jahre haben uns gelehrt, dass man es auf Sardinien mit der Mülltrennung sehr genau nimmt. Während der Nachbar unter der Dusche sein Liedchen trällert werde ich immer wieder Zeuge wie mein Mann als morgendliches Mantra die wöchentliche Mülltrennungsagenda meditativ vor sich hin murmelt: „Umido, Plastica und Secco“ sind die magischen Worte, mit denen mein Mann unsere Urlaubstage in Sardinien veredelt. Doch trotz seines gesteigerten Umweltbewusstseins in unserem Feriendomizil kommt es zum Eklat: Jeden Abend bekommen wir nämlich Besuch von Luciano, dem pedantischen Hüter über den sardischen Müll, der uns mit seiner flotten Ape vom häuslichen Unrat befreit. Allerdings zeigt uns Luciano an diesem lauen Sommerabend, in seinem gesteigerten Mülltrennungs-Fanatismus sein wahrhaft mephistophelisches Gesicht. Ich lümmele gerade glückselig in meinem Liegestuhl und vernehme plötzlich das angstvolle Weinen des Stenzes, der sich mit folgenden Worten auf mich stürzt: „Mami, der Müllmann verprügelt glaube ich gleich den Papa.“ Und tatsächlich Luciano, alias Lucifer steht brüllend und tobend vor meinem verdatterten Mann, der nur noch eingeschüchtert „Umido“ wispert. Er tut mir so leid. Seit Wochen ist er mit ungebremstem Eifer um die korrekte Mülltrennung besorgt und er hätte sich so über ein anerkennendes Lob von Luciano gefreut. Doch von Lobes-Hymnen ist dieser weit entfernt. Erst das laute Weinen des Stenzes gebietet Lucifer Einhalt und er besinnt sich wieder seiner eigentlichen Mission: Mit vernichtenden Worten pfeffert er meinem perplex dreinblickenden Mann den Plastica-Sack um die Ohren und rauscht mit quietschenden Reifen von dannen. Wie herzlos von ihm!
Mit dem Lastwagen zum Einkauf
Doch das Gros der Italiener hat viel Herz. Das bemerken wir als wir am Tag nach dem nächtlichen Umzugs-Debakel mit Entsetzen feststellen, dass sich unsere Wasser-Vorräte auf klägliche fünf Mini-Tropfen reduziert haben. Denn die schweißtreibende Kinderbetten-Aktion hat mich, den Milch gebenden Gecko, zu einem noch größeren Wasserkonsumenten gemacht. So setzt sich meine Familie bei 40 Grad im Schatten in unserem Mietauto gen Supermarkt in Bewegung. Doch wir kommen nicht weit. Das kleine Sack-Gässchen, das sich kurz vor unserem Ferienhaus befindet und uns mit der Außenwelt verbindet, hat sich nämlich über Nacht in ein großes schwarzes Loch verwandelt, das alles zu verschlingen droht. Denn der Straßenbelag hat sich wohl im Laufe der Zeit verdünnisiert und wird nun nach italienischer Manier grunderneuert. Doch bevor wir mit Karacho in unser Unheil plumpsen kommt ein braun gebrannter Bauarbeiter aus dem Gebüsch gehüpft und lässt uns wild gestikulierend abrupt anhalten. „Hier ist für den Rest des Tages kein Durchkommen“ gibt er uns wortgewaltig auf italienisch zu verstehen. Ich halte diese Aussage für einen Scherz oder ein Missverständnis, das sich aufgrund meiner kargen Italienischkenntnisse eingeschlichen hat. Mitnichten, wie wir eine halbe Stunde später, immer noch vor dem Loch verharrend, feststellen müssen. Mittlerweile hat sich allerdings unser Gemütszustand aufgrund der defizitären Schlafbilanz der vergangenen Nacht und wegen eines starken Durstgefühls drastisch verschlechtert. Ein Blick auf das transpirierende Baby und den bleichen Stenz treibt mir spontan die Tränen in die Augen. Wir brauchen Wasser und zwar schnell. „Acqua, acqua for our kids!“ versuche ich stümperhaft unserem kollektiven Durstgefühl Ausdruck zu verleihen. Da zeigt der Chef-Bauarbeiter plötzlich Erbarmen und bietet uns spontan seine Hilfe an. Allerdings besteht diese nicht wie erwartet darin, uns einen geheimen Schleichweg aus der Misere zu zeigen oder das Loch in Windeseile zu stopfen. Oh nein, die Lösung des Problems liegt im nahe gelegenen Lastwagen. Und so fährt ein braungebrannter Bauarbeiter mittags um 13 Uhr während seiner Siesta den Stenz, das Baby, den Mann und mich zum Supermarkt, um mit uns fröhlich den Wochen-Einkauf zu erledigen. Das nenne ich einmal lösungsorientierte Völkerverständigung! Lucifer, nimm Dir ein Beispiel!