Ein Plädoyer für mehr herbstliches Rumhocken

Ich war ein paar Tage im Krankenhaus. Nichts Ernstes, aber doch so ernst, dass ich mich auf das Wegatmen meiner Schmerzen konzentrierte. Und das war es auch schon: ein- und ausatmen und die richtige Position im Bett finden. Ab und zu schlappte ich die langen Krankenhausflure entlang und sann über das Leben nach. Dabei sog ich verwundert diese eigenartige Ruhe in mich ein. Eine Ruhe, die ich so gar nicht kannte. Wo war der Lärm? Wo waren die Menschen? Die Welt war draußen. Weit weg. Ich schlurfte und atmete und versuchte, als rohes Ei nicht zu fallen. Bloß keinen Sprung bekommen. Und während ich konzentriert einen Fuß vor den anderen setzte, staunte ich über diese Stille, die so kraftvoll in der Luft lag. Wow. Das hier haute mich um, in seiner ganzen Einfachheit.


Und plötzlich ganz allein

Ich war der einzige Mensch auf den Fluren. Auch wenn sich hinter den großen Türen andere Leben verbargen. Während ich auf und ab schlappte, atmeten sie wohl alle so leise, dass ich nur mit mir selber war. Und das war schön. Keine Termine, kein Laptop, keine Emails, kein Haushalt, kein gar nichts, noch nicht mal Selbstoptimierung. Einfach nur die Stille und das Wegatmen der Schmerzen.

Schlafen am helllichten Tag

Nach vier Tagen fragte mich eine Freundin, wann ich denn Heim dürfe. Ich entgegnete ihr, ihre Frage sei vollkommen falsch gestellt und müsste viel mehr lauten. „Wann ich denn Heim müsse?“ Denn ich weiß nicht, wann mich das Leben das letzte Mal so runtergeschraubt und auf winziger Flamme hatte flackern lassen. Und wie einmalig war es, dieses kleine leise Licht zu sein, von dem man nichts erwartete. Keinen Plan zu haben, nur atmen zu müssen. Bei meinem Hin- und Hergeschlurfe auf den verwaisten Fluren fand ich einen Band mit Kurzgeschichten. Nach einer Geschichte, die mich an das funkelnde Grau des Meeres brachte, schlief ich ein. Tief und fest. Zwei Stunden und das mitten am Tag. Beim Aufwachen überlegte ich mir, den Chefarzt zu bestechen, meinen Aufenthalt irgendwie noch etwas auszuweiten, so lange bis ich wieder bereit wäre für das Draußen, bis die Langeweile an mir hochkröche und mich schüttele. So lange bis mir die Anrufe fürsorglicher Freunde, die sich zum Besuch ankündigen wollten, nicht mehr als Drohung erschienen und ich mich auf mein bisweilen chaotisches Leben zu Hause wieder freute.

Schlanke Auszeiten statt schlanke Hintern

Ich verstehe meine Freundin, sie will für ein paar Tage in ein Kloster. Nicht in ein Wellnesshotel. In ein Kloster! Kein Schwimmen, kein Geschwätz, kein Programm, kein Schnickschnack. Nur Stille und man selbst sitzt mitten drin mit seinen Gedanken in dieser raumausfüllenden Ruhe. Keine Ablenkung. Vielleicht ist es das, was wir diesen Herbst brauchen: Keine Massagen und Facials, keine Body Workouts für schlanke Hintern, sondern schlanke Auszeiten, die nicht vollgepackt sind mit Höhepunkten, die uns müde und morsch machen. Kein Zudröhnen mit Aktivitäten. Kein Vollpacken des Lebens bis in die hinterste Ritze, sodass es plötzlich kippt.

Muße, verloren im Alltagstrubel

Verstehen sie mich nicht falsch, ich reise für mein Leben gerne und liebe Abenteuer. Aber diese ständige Suche nach dem nächsten Kick, der uns ablenkt und zerstreut und uns wegbringt von uns selbst. So viel Lärm um nichts, selbst im Urlaub. “Wir waren wandern, biken, shoppen, haben Städte besichtigt und sind auf Berge geklettert, waren schwimmen, schnorcheln und tauchen, und haben abends so lange geschlemmt, dass wir am nächsten Morgen den Bauch wieder wegtrainieren mussten.“ Wo ist sie geblieben, die Muße und vielleicht auch ein bisschen Askese? Wir haben sie scheinbar im Alltag verloren und finden sie auch im Urlaub nicht mehr. Mit ihr kann man  auch keinen Blumentopf gewinnen, höchstens ein bisschen Frieden. Aber das ist ja auch schon allerhand.

Zeit ist Geld – auch im Urlaub

Umso bedauerlicher, dass wir das Nichtstun verlernt haben. Wir brauchen überall und immer einen produktiven Output, sogar im Urlaub. Und wenn es sich nur um schillernde Erinnerungen handelt. Zeit ist Geld und das Leben ist kurz. Bevor ich sterbe, sollte ich noch so einiges erleben. Zu atmen und Flure entlangschlurfen, davon kann ich im Alter nicht zehren. Das habe ich später noch genug. Vielleicht ist es diese elementare Angst, die uns umtreibt und selbst in unserer Freizeit zum blinden Aktionismus verdonnert. Mir hat die Zwangspause im Krankenhaus jedenfalls gutgetan. Und plötzlich verstehe ich meine Tochter, die mir an einem sonnenbeschienenen Samstag in den Bergen entgegen jammerte: „Mama, ich möchte nur nach Hause und einfach so rumhocken.“